Xenon Kino Berlin

Filmkunstkino in Berlin-Schöneberg

Unser Paradies
»Notre Paradis« FRA 2011 • 97 Min. • keine Jugendfreigabe • franz.O.m.U.
Regie: Gaël Morel (s.a. »Le Clan« (2004))
Buch: Gaël Morel
mit: Stéphane Rideau (s.a. »Le Clan« (2004) und »Sommer wie Winter« (1999)), Dimitri Durdaine, Béatrice Dalle (s.a. »The Happy Prince« (2017) und »Begegnungen nach Mitternacht« (2013) und »Trouble Every Day« (2001) und »Betty Blue 37,2 Grad am Morgen« (1986)), Didier Flamand, Malik Issolah
Kamera / Bildgestaltung: Nicolas Dixmier
Schnitt / Montage: Catherine Schwartz (s.a. »Le Clan« (2004))
Musik: Camille Rocailleux (s.a. »Le Clan« (2004)), Louis Sclavis

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der Stricher Vassili ist älter geworden ... ein anderer Stricher taucht plötzlich auf: Angelo ...

Vassili geht auf den Strich. Von seiner jugendlichen Schönheit ist wenig übrig geblieben und seine Freier lassen ihn das spüren. Gewaltsam wehrt er sich gegen die Entwürdigungen, doch hat er die Verachtung, mit der die Kunden ihn und seinen Körper ansehen, längst verinnerlicht. Dann, eines Nachts im Bois de Boulogne, entdeckt Vassili einen blutenden und misshandelten Jungen, der aus dem Nichts zu kommen scheint. Er nennt ihn Angelo, den Engel. Es ist von Anfang an eine leidenschaftliche Amour fou, die beide erfasst, ohne Zweifel und Misstrauen, ohne Kompromisse. Gemeinsam gehen sie auf den Strich, ermorden und berauben ihre Freier, fliehen schließlich aus Paris, um ihr Paradies zu suchen, wo sie mit allem aufhören und einen Neuanfang wagen können. Doch auch Vassilis Jugendfreundin Anna und ihr kleiner Sohn können die Katastrophe nicht abwenden, auf die Vassili und Angelo zusteuern …

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Anna, eine Freundin Vassilis von früher ...

Vassili: »Ich komme aus einem Dorf bei Grenoble. Als Schwuler wollte ich nur eins: nach Paris ziehen und ficken, ficken. Viele kommen her, um Schauspieler zu werden oder so. Mir ging’s nur ums Ficken. Und ich bin auf meine Kosten gekommen. Diese Stadt ist ein Bordell. Wenn du jung und hübsch bist und Ärsche magst, bist du der King.«
Angelo: »Ich weiss. Und wenn man nicht mehr der King ist?«
Vassili: »Genau solche Fragen habe ich mir nie gestellt. Das hätte ich mal tun sollen. Als Schwuler musst du dein Alter in Hundejahren rechnen. Ab dreissig ist alles vorbei«.
Angelo: »Wenn man sich liebt, ist es nicht vorbei.«


Mir sind Brett Easton Ellis und allgemein die jüngere US-amerikanische Literatur sehr nahe. Bei Dennis Cooper funktionieren die Geschichten auch ohne dass seine Helden mit einer Vergangenheit ausgestattet sind. Sie sind Helden, obwohl sie Geheimnisse haben, nicht sympathisch sind - sondern weil sie einen Weg verfolgen. Auch Raskolnikovs Motive für seine Verbrechen bleiben ja im Dunklen. Bei Figuren ein nicht ganz vollständiges Bild zu zeichnen, stimuliert die Fiktion: Der Leser oder Zuschauer kann die dunklen Bereiche auffüllen, sich selbst dazu in Beziehung setzen, auch bei kriminellen Figuren. Das hat mit grundloser Grausamkeit nichts zu tun. … die Gefahr, ein negatives Bild der Homosexualitätzu zeichnen Für mich gehört Homosexualität zur sexuellen Sphäre, nicht zur sozialen. In Filmen, im Fernsehen ist das ein Nebenaspekt von Figuren, die arbeiten, abends nach Hause gehen usw. Die sexuelle Realität ist - auch in diesen Fällen - etwas anderes: Clubs, Bars, Cruising-Orte … Mein Film sollte nicht der normativen Darstellung unserer Gesellschaft entsprechen, er hat ein sexuelles Thema. Und ich will, dass sich schwule Zuschauer mit Kriminellen identifizieren. Würde ich eine Frau auf die bürgerliche, häusliche Sphäre reduzieren wollen, würden sich die Schauspielerinnen wahrscheinlich aus gutem Grund weigern. Aber ich zeige sexuelle Lust niemals als etwas Negatives ­ im Gegenteil, die Szene mit dem Dreier in Vassilis Wohnung ist wohl die glücklichste des Films.
… das Thema des Alters
Das hat mich schon immer interessiert. Die Figur von Cathérine Deneuve in Après lui verliert ja auch nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihre eigene Jugend, weshalb sie sich plötzlich mit Jugendlichen anzufreunden versucht. In UNSER PARADIES kommt das Phänomen hinzu, dass man in Schwulenkreisen mit über 40 schon als alt gilt. Da man in der Regel nicht in Familiensituationen lebt, die einen de facto »altern« lassen, definieren viele ihren Lebensstil über Sexualität, und deshalb wird Jugend auch so fetischisiert. Und fetischisiert heißt ja nicht respektiert, was bei Vassili eine Quelle seiner Aggression gegenüber den Freiern ist. Ein Schlüsselsatz diesbezüglich ist der, den der Arzt im Film sagt: »Eine alte Schwuchtel wie ich muss sich andere Freuden suchen.« Das müssen Heteros natürlich auch, aber bei den Schwulen ist das viel dramatischer (was oft auch von unfreiwilliger Komik sein kann).

… Stéphane Rideau
Stéphane hat mittlerweile viel Erfahrung, aber er ist gewiss ein untypischer Schauspieler. Bei uns ist die Arbeitsgrundlage unsere Freundschaft und das Vertrauen, das wir ineinander setzen können. Stéphane macht alles, was ich als Regisseur von ihm will. Aber er will auch alles, was ich ihm geben kann. Er trägt seine Figur mit sich, er hat sie selbst erschaffen, insofern ist er ihr perfekter Darsteller.

… Béatrice Dalle
Schauspielerische Präsenz, das ist ein Körper, ein Blick, eine Stimme und ein Gang. Das reicht - und ist doch nicht einfach herzustellen. Ich war fasziniert von der Idee, die Präsenz von Béatrice Dalle mit der von Stéphane Rideau zu kombinieren: beides Ikonen in ihrem eigenen Reich. Beide zusammen zu sehen schafft in meinen Augen den perfekten Eindruck zweier Erwachsener, die zu spat aus ihrer glorreichen Jugend erwacht sind … Béatrices Rolle ist sehr wichtig in diesem Film: eine verantwortungsbewusste Mutter, aber undurchsichtige Frau, die unser Urteil über Vassili als Killer infrage stellt, weil er mit ihr und ihrem Sohn anders ist, väterlich, beschützend.

Dieser Film lief im Xenon im April 2012

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